Eine Geschichte von Liebe und Finsternis by Amos Oz

Eine Geschichte von Liebe und Finsternis by Amos Oz

Autor:Amos Oz [Oz, Amos]
Die sprache: deu
Format: mobi
veröffentlicht: 0101-01-01T00:00:00+00:00


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Alles, was meine Eltern in ihrem Leben nicht erreicht hatten, luden sie auf meine Schultern. Im Jahr 1950, am Abend des Tages, an dem Hannah und Michael (in meinem Roman Mein Michael) einander zufällig auf der Treppe des Terra-Sancta-Gebäudes begegnet waren, trafen sich die beiden wieder im Café Atara in der Ben-Jehuda-Straße in Jerusalem. Hannah ermuntert den schüchternen Michael, von sich zu erzählen, aber dieser erzählt ihr von seinem verwitweten Vater:

... sein Vater setzte große Hoffnungen in ihn. Er wollte nicht einsehen, daß sein Sohn ein gewöhnlicher junger Mann war. Er pflegte zum Beispiel voller Ehrfurcht die Aufsätze zu lesen, die Michael für sein Geologiestudium anfertigte, um sie dann in wohlgesetzter Rede mit Sätzen wie »Das ist sehr wissenschaftlich. Sehr gründlich« zu kommentieren. Seines Vaters größter Wunsch war es, daß Michael einmal Professor in Jerusalem würde, denn sein Großvater väterlicherseits hatte Naturwissenschaften am hebräischen Lehrerseminar in Grodno gelehrt. Er war sehr angesehen gewesen. Es wäre schön, dachte Michaels Vater, wenn sich diese Tradition von einer Generation zur anderen fortsetzen ließe.

[Und Hannah sagt:]

»Eine Familie ist kein Staffellauf, in dem ein Beruf wie ein Staffelholz weitergegeben wird.«

Viele Jahre lang gab mein Vater die Hoffnung nicht auf, man würde ihm eines Tages doch noch Onkel Josephs Robe um die Schultern legen, die er zu gegebener Zeit vielleicht mir weitervererben könnte, wenn ich der Familientradition folgen und ebenfalls ein Gelehrter werden würde. Sollte ihm jedoch die Robe versagt bleiben – wegen der Tyrannei des Broterwerbs, die ihn zeit seines Lebens an eine öde Bürotätigkeit fesselte und ihm nur die Nachtstunden für seine Forschungen ließ –, wäre sie vielleicht seinem einzigen Sohn vergönnt?

Meine Mutter hingegen, so scheint mir, wollte, daß ich einmal das zum Ausdruck bringe, was ihr nicht auszudrücken gegeben gewesen war.

In späteren Jahren erinnerten sie mich wieder und wieder im Beisein all ihrer Gäste, vor den Sarchis und den Rudnickis und den Chananis und den Bar-Jitzhars und den Abramskys, mit einem stolzen Schmunzeln daran, daß ich schon als Fünfjähriger, vielleicht zwei, drei Wochen nachdem ich die Buchstaben gelernt hatte, eines von Vaters Karteikärtchen genommen, darauf in Druckbuchstaben »Amos Klausner, Schriftsteller« geschrieben und mittels einer Heftzwecke an der Tür meines Zimmerchens befestigt hatte.

Noch ehe ich lesen konnte, lernte ich, wie Bücher entstehen: Ich stahl mich hinter Vaters Rücken, stellte mich auf die Zehenspitzen und schaute ihm über die Schulter, wenn er vorgebeugt am Schreibtisch saß – sein müder Kopf schien im gelben Lichtkegel der Tischlampe zu schweben – und sich langsam und mühevoll durch das steile trockene Flußbett zwischen zwei hochgetürmten Bücherbergen in der Mitte des Schreibtisches hindurcharbeitete, unterwegs Detail um Detail aus den Bänden, die aufgeschlagen vor ihm lagen, aufsammelte, gründlich im Licht prüfte, klärte, klassifizierte, auf kleinen Karteikärtchen registrierte und einordnete, jedes Detail an seine passende Stelle, als fädele er Edelsteine zu einer Kette auf.

Eigentlich arbeite ich ungefähr wie er. Arbeite wie ein Uhrmacher oder Goldschmied alter Schule: Ein Auge zugekniffen, ins andere eine röhrenförmige Uhrmacherlupe geklemmt, eine feine Pinzette in den Fingern, vor mir auf dem Tisch keine Karteikärtchen, sondern viele



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